Cheryl und der 8. Mai
Sie erlebte bei uns den 8. Mai vor einer Woche mit, an dem wir alle uns ermahnten, nie zu vergessen. (Schon vergessen?). „What's that?" fragte Cheryl. Sie war erst einige Stunden in Europa und hielt nun als erste deutsche Zeitung die AZ vom 5. Mail in der Hand - mit dem Titelfoto von Timeloberg bei Lüneburg, wo einer der vielen neuen Gedenksteine enthüllt wurde, die demselben Thema (mit Variationen) gewidmet sind wie die bisherigen, unzähligen Gedenksteine, -tafeln und -orte mit dem Thema „,Nie wieder Krieg" (in keiner seiner Variationen). Ich erzähle Cheryl von dem Leben von uns Deutschen auf das Datum 8. Mai hin - 50 Jahre Kriegsende. Dies „8. Mai-Leben" mit den mehr oder weniger klaren Gefühlen in uns Deutschen. Mit den buchstäblich „gemischten Gefühlen". „Cheryl," frage ich, „was fällt Dir zu dem 8. Mai 1995 ein - 50 Jahre Kriegsende?" Dr. Cheryl Dileo Maranto ist Amerikanerin, 45 Jahre alt, Psychotherapeutin und Professor an der Temple-University in Philadelphia/USA. Seit Amtsantritt als Präsidentin der World Federation of Musictherapy (WFMT) - worin ich sie kennenlernte - bereiste sie mehrere Jahre lang über 20 Länder auf allen Kontinenten. „Mir fallen zwei Bilder ein," antwortet Cheryl, rührt die Milch im heißen Kaffee um und schaut weit hinaus in die Heidelandschaft: „Ich erinnere die Schlussszene aus Steven Spielbergs Film Schindlers, Liste. Da bekommt Schindler, der Deutsche, von den Juden den Ring geschenkt, in dem die Worte eingraviert sind: Wenn du einen Menschen rettest - rettest Du die ganze Welt." Ich frage Cheryl anlässlich des 8. Mai 1945 wie dem 8. Mai 1995 nach einem Gedanken zur „deutschen Schuld". Cheryl: „Ich denke daran, dass es nicht nur die deutsche Schuld gibt. Es gibt außerdem die Schuld im menschlichen Dasein." Was sie, die Weitgereiste und Kennerin moderner Aggressionsforschung, über die Forderung denke, die der Stein bei Lüneburg und alle anderen Steine und ihre menschlichen Metze meinen: Nie wieder Krieg! Wenn alle Menschen „nie wieder Krieg" wollen - wie ist die Aussicht? Cheryl: „Im menschlichen Leben wird menschliche Aggression bleiben - und wir haben zwar derzeit global politische Systeme, die einen dritten Weltkrieg verhindern, aber wir sind kein globales Volk." Ich frage Cheryl, was wir Deutschen und die Menschheit nicht vergessen sollten angesichts der derzeitigen Daueranforderung, nie zu vergessen. Cheryl: „Nie. vergessen, dass wir Menschen uns selbst zerstören können. Und nie vergessen, dass wir Menschen diese Zerstörungskraft in uns zu überwinden imstande sind." Und, frage ich, gibt es etwas, was wir und unsere Kinder und die Kinder von diesen Kindern, vergessen könnten, sollten, dürften, müssten? Cheryl: „Vergessen werden sollten die Schuldgefühle, die an der Schuld der am 2. Weltkrieg Beteiligten haften....Cheryl rührte erneut in ihrem kaltgewordenen Kaffee. Der Blick in die äußere Landschaft unserer Heide und der inneren Landschaft der Seele war wichtiger gewesen als der ersehnte heiße Kaffee.
16. Mai 1995